TRIBUNE LOTFI AOULAD | FEBRUAR 2025
Berlin, Fashion Lab für ein neues europäisches Kulturmodell
Es gibt Städte, die man sich aussucht. Andere, die einen aussuchen. Und dann gibt es Berlin.
Berlin hat mich überrascht – an einem grauen Wintertag 2023. Damals koordinierte ich den UNESCO-Bericht über die Modeindustrie in Afrika. Fasziniert von den kreativen Dynamiken des Kontinents verspürte ich das Bedürfnis, eine europäische Szene abseits der bekannten Pfade – Paris, Mailand – zu entdecken. Ich hatte in der Schule Deutsch gelernt, obwohl zu Hause Arabisch und Spanisch gesprochen wurde… Eine Sprache, die in mir geschlummert hatte. Zwei Wochen später fand die Berliner Fashion Week statt. Trotz grauem Himmel: Ich buchte mein Ticket.
Berlin kam wie eine Antwort. Ich erwartete exzentrische Shows in verlassenen Bunkern – und fand eine ganze Stadt. Berlin denkt mit dem Körper, erzählt sich über seine Ränder, und erfindet immer wieder neue Wege des Gestaltens – jenseits von Leistungsdruck und Verwertungslogik. In Ateliers, Squats, Galerien, unabhängigen Showrooms und auf den Straßen entdeckte ich Mode. Buki Akomolafe, Buzigahill, GHMB, Marie Lueder, Marke, Orange Culture, Sia Arnika, Société Angélique - und viele mehr. Designer:innen, viele aus verschiedenen Diasporas, mit Geschichten von Exil, Freude, Heilung und Begegnung. Ich, ein Junge aus der Banlieue, Sohn der französisch-marokkanischen Diaspora, auf der Suche nach einem kulturellen Raum, in dem ich existieren konnte – ich fühlte mich plötzlich als Berliner. Vielleicht wie Kennedy, aber in einer kleinen, gemütlichen Bar in Neukölln.
Ein kreatives Epizentrum für Europa
Berlin ist eine somatische Stadt. Ich fühlte mich dort ganz. Diese Stadt trägt die Narben der Geschichte, die Brüche des Krieges – und den tiefen Wunsch, sich neu zu erfinden. Sie war das schwarze Herz der Welt – und zugleich der Ort ihres Widerstands. Von vergessenen queeren Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit über die sogenannten „entarteten“ Künstler:innen, von jüdischen Dichter:innen in der Illegalität bis zu feministischen und antikapitalistischen Squats nach dem Mauerfall: Berlin war ein Zufluchtsort für jene, die durch ihre Kunst Widerstand leisten – und ist es, wenn auch fragiler, bis heute geblieben. Wehrdienstbefreiung, bezahlbare Mieten, leerstehende Räume – einst war alles da. In den 1990er- und 2000er-Jahren wurde Berlin zur einflussreichsten elektronischen Musikszene der Welt. Und zu einer Hauptstadt des „Andersmachens“: open source, queer, ökologisch. Bis heute verkörpern Exil-Künstler:innen und diasporische Kollektive wie SAVVY Contemporary oder die IFA-Galerie diese vielfältigen kulturellen Szenen – trotz wachsender Herausforderungen.
Berlin als Ort des Neu-Werdens
Künstler:innen brennen aus. Denn die traditionellen Modelle kultureller Produktion tun es auch. Sie sollen heute alles zugleich sein: Kreative, Projektmanager:innen, Content-Strateg:innen, Kommunikator:innen, Fundraising-Spezialist:innen. Ihre Werke werden zu Produkten, ihre Biografien zu Marken, ihre Schöpfungen zu Aufträgen. Inmitten multipler Krisen darf Kultur nicht länger nur als Unterhaltung dienen. Sie ist unsere Matrix. Sie hält uns. Sie verbindet uns. Sie zeigt, wohin wir gehen können. Berlin bleibt ein Zufluchtsort – doch ein verletzlicher. Die Mieten steigen, künstlerische Freiräume schrumpfen, die unabhängige Szene wird brüchiger. Und dennoch: Eine Energie bleibt. Denn Berlin ist eine Stadt, in der Heilung ein Erfolg ist. Kein Wunder also, dass Künstler:innen und Denker:innen hierherkommen, um durchzuatmen. In Berlin wird Kreativität (noch) nicht industrialisiert. Sie wird möglich gemacht.
Das Relais: ein Ort, der verbindet
Aus diesem Geist heraus ist Das Relais entstanden – ein translokaler, transdisziplinärer Raum, tief verwurzelt in kulturellen Erzählungen und dem Wohlbefinden. Das Relais schlägt Brücken zwischen bildender Kunst, Mode, Design, Tanz, Bildung, Elternschaft, diasporischen Perspektiven und vielem mehr. Zwischen Berlin, London, Mailand, Paris, Toulouse und Clichy-sous-Bois. Zwischen Körper und Idee. Das Relais entsteht in Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen wie dem Haus der Kulturen der Welt (Berlin), der IFA-Galerie (Berlin), dem Africa Centre (London) und den Ateliers Médicis (Clichy-sous-Bois).
Berlin als Ausgangspunkt. Berlin ist unser Ausgangspunkt – weil die Stadt die Dringlichkeit dieser Bewegung in sich trägt. Sie ist Stadt der Erinnerungen und des Neuanfangs. Europa braucht neue Erzählungen: verwurzelte, vielfältige, heilende. Und wir wollen sie von hier aus, von Berlin aus, zum Leuchten bringen.
KINDERWERKE @LERELAIS FESTIVAL 2018
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ÜBER LOTFI AOULAD
Zunächst Anwalt, später Berater für öffentliche Politik – sein Werdegang ist geprägt von dem Wunsch, verschiedene Welten zu durchqueren: von den Vororten von Saint-Denis über internationale Institutionen bis hin zu selbstverwalteten Gemeinschaften im ländlichen Raum sowie zu Krankenhaus- und Gefängniseinrichtungen. Im Jahr 2024 wurde er nach einer einjährigen Ausbildung an der Maternité des Lilas als Doula für Geburtsbegleitung zertifiziert. Er ist Mitglied des Vorstands der Organisation Rêv'Elles. Außerdem war er Co-Direktor der Zeitschrift für mediterrane Literatur Nejma und unterstützt mehrere Initiativen in den Bereichen Kunst und Mode. Er ist Mitglied des Expertengremiums für den Modepreis der Arabischen Welt.
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Berlin kam wie eine Antwort. Ich erwartete exzentrische Shows in verlassenen Bunkern – und fand eine ganze Stadt. Berlin denkt mit dem Körper, erzählt sich über seine Ränder, und erfindet immer wieder neue Wege des Gestaltens – jenseits von Leistungsdruck und Verwertungslogik. In Ateliers, Squats, Galerien, unabhängigen Showrooms und auf den Straßen entdeckte ich Mode. Buki Akomolafe, Buzigahill, GHMB, Marie Lueder, Marke, Orange Culture, Sia Arnika, Société Angélique - und viele mehr. Designer:innen, viele aus verschiedenen Diasporas, mit Geschichten von Exil, Freude, Heilung und Begegnung. Ich, ein Junge aus der Banlieue, Sohn der französisch-marokkanischen Diaspora, auf der Suche nach einem kulturellen Raum, in dem ich existieren konnte – ich fühlte mich plötzlich als Berliner. Vielleicht wie Kennedy, aber in einer kleinen, gemütlichen Bar in Neukölln.
Ein kreatives Epizentrum für Europa
Berlin ist eine somatische Stadt. Ich fühlte mich dort ganz. Diese Stadt trägt die Narben der Geschichte, die Brüche des Krieges – und den tiefen Wunsch, sich neu zu erfinden. Sie war das schwarze Herz der Welt – und zugleich der Ort ihres Widerstands. Von vergessenen queeren Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit über die sogenannten „entarteten“ Künstler:innen, von jüdischen Dichter:innen in der Illegalität bis zu feministischen und antikapitalistischen Squats nach dem Mauerfall: Berlin war ein Zufluchtsort für jene, die durch ihre Kunst Widerstand leisten – und ist es, wenn auch fragiler, bis heute geblieben. Wehrdienstbefreiung, bezahlbare Mieten, leerstehende Räume – einst war alles da. In den 1990er- und 2000er-Jahren wurde Berlin zur einflussreichsten elektronischen Musikszene der Welt. Und zu einer Hauptstadt des „Andersmachens“: open source, queer, ökologisch. Bis heute verkörpern Exil-Künstler:innen und diasporische Kollektive wie SAVVY Contemporary oder die IFA-Galerie diese vielfältigen kulturellen Szenen – trotz wachsender Herausforderungen.
Berlin als Ort des Neu-Werdens
Künstler:innen brennen aus. Denn die traditionellen Modelle kultureller Produktion tun es auch. Sie sollen heute alles zugleich sein: Kreative, Projektmanager:innen, Content-Strateg:innen, Kommunikator:innen, Fundraising-Spezialist:innen. Ihre Werke werden zu Produkten, ihre Biografien zu Marken, ihre Schöpfungen zu Aufträgen. Inmitten multipler Krisen darf Kultur nicht länger nur als Unterhaltung dienen. Sie ist unsere Matrix. Sie hält uns. Sie verbindet uns. Sie zeigt, wohin wir gehen können. Berlin bleibt ein Zufluchtsort – doch ein verletzlicher. Die Mieten steigen, künstlerische Freiräume schrumpfen, die unabhängige Szene wird brüchiger. Und dennoch: Eine Energie bleibt. Denn Berlin ist eine Stadt, in der Heilung ein Erfolg ist. Kein Wunder also, dass Künstler:innen und Denker:innen hierherkommen, um durchzuatmen. In Berlin wird Kreativität (noch) nicht industrialisiert. Sie wird möglich gemacht.
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Aus diesem Geist heraus ist Das Relais entstanden – ein translokaler, transdisziplinärer Raum, tief verwurzelt in kulturellen Erzählungen und dem Wohlbefinden. Das Relais schlägt Brücken zwischen bildender Kunst, Mode, Design, Tanz, Bildung, Elternschaft, diasporischen Perspektiven und vielem mehr. Zwischen Berlin, London, Mailand, Paris, Toulouse und Clichy-sous-Bois. Zwischen Körper und Idee. Das Relais entsteht in Zusammenarbeit mit Partnerinstitutionen wie dem Haus der Kulturen der Welt (Berlin), der IFA-Galerie (Berlin), dem Africa Centre (London) und den Ateliers Médicis (Clichy-sous-Bois).
Berlin als Ausgangspunkt. Berlin ist unser Ausgangspunkt – weil die Stadt die Dringlichkeit dieser Bewegung in sich trägt. Sie ist Stadt der Erinnerungen und des Neuanfangs. Europa braucht neue Erzählungen: verwurzelte, vielfältige, heilende. Und wir wollen sie von hier aus, von Berlin aus, zum Leuchten bringen.
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