TRIBUNE LOTFI AOULAD | SEPTEMBER 2025
Wohlsein und Geborenwerden: Für eine kulturelle Maieutik
Die Entbindungsklinik "Maternité des Lilas" wird bald ihre Türen schließen. Es sind nicht nur Lichter, die erlöschen, sondern eine Geschichte menschlicher Leben, die ins Wanken gerät. Seit einundsechzig Jahren, über 22.000 Tage hinweg, hat dieser Ort eine andere Art des Heilens und des Empfangens von Leben verkörpert: durch Zuhören und Einverständnis.
Ich empfinde tiefe Traurigkeit angesichts dieser Schließung, vermischt mit großer Dankbarkeit, Teil ihrer Geschichte und Gemeinschaft gewesen zu sein. Denn eines Tages schrie ich dort, gemeinsam mit einer gebärenden Mutter, im gedimmten Licht des Gebärsaals. Ich tanzte eine kubanische Rumba, um die Wehen zu begleiten. Ich bereitete ein Sandwich für einen Vater zu, der zweifelte. Ich sah Hebammen, die erst nach einer Bitte ihre Hände auf die Körper legten, Lächeln auf erschöpften Gesichtern, den allerersten Blick zwischen Eltern und Kind. Ich hatte nie geplant, Doula zu werden. Und doch wurde etwas in mir geboren. Meine erste Geburt war eine Überfahrt. Sie heilte das Kind, das ich war, indem sie den Mann hervorbrachte, der ich sein möchte: ein dem Leben zugewandter Mensch, der darauf achtet, dass es in Würde und Sanftheit entstehen kann. An jenem Tag wurde ich erwachsen. In diesem Moment verstand ich auch, wie wesentlich es ist, Geburt und künstlerisches Schaffen miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn wenn die Geburtsklinik schließt, bleiben ihre Lehren bestehen. Diese Verbindung zwischen Wohlsein und Geborenwerden ist meine Art, die Geschichte der Lilas weiterzutragen, meine eigene dort einzuschreiben – anderswo und auf andere Weise.
Von Geburtsräumen zu Kulturszenen
Zu oft noch hält sich das Bild vom einsamen Künstler, gefangen in seinen Zweifeln, der in Schmerz erschaffen muss. Doch wie eine Geburt ist auch die Entstehung eines Kunstwerks oder kulturellen Projekts kein isolierter Akt. Ich habe mehrere Geburten begleitet. Ich habe zutiefst inspirierende Teams beobachtet, die Gehör, Menschlichkeit und Organisation in einem wohlwollenden Rahmen vereinten. Jede Geburt wird als individueller Prozess betrachtet, mit Respekt für Rhythmus, Bedürfnisse und Wünsche. Im Kreißsaal hat jeder – Ärztinnen, Hebammen, Doulas, Pflegepersonal, Partnerinnen, Familien, Freundinnen – eine klare Rolle, doch alle wirken gemeinsam, um die Geburt bestmöglich zu begleiten. Warum nicht unsere Kulturpolitik an diesem Modell orientieren? Wie eine Geburt braucht auch künstlerisches Schaffen Zeit, Aufmerksamkeit und Ressourcen. Es trägt die Geschichte seines oder seiner Schöpferin in sich. Als Doula führe ich pränatale Gespräche mit werdenden Eltern: Wir sprechen über Ängste, Wünsche, Vorstellungen. Daraus entsteht ein Geburtsplan, eine gemeinsame Vorbereitung. Warum also keine "Schöpfungspläne", gemeinsam mit den Künstlerinnen entwickelt, auf Basis ihrer Realitäten statt bloß erwarteter Ergebnisse?
Nach der Schöpfung: Die Pflege
Die Zeit nach einer künstlerischen Schöpfung ist oft verstörend. Es kann Leere folgen, ein Schwebezustand, Erschöpfung. Genau dann muss die Begleitung weitergehen. Denn sie endet nicht mit der "Geburt" des Werks. Ein inspirierendes Beispiel ist "Le Cercle de l'Art", gegründet von Margaux Derhy: ein Kollektiv von Künstlerinnen, die sich gegenseitig beim Aufbau ihrer Laufbahnen unterstützen und Werkzeuge für ein Leben mit der Kunst entwickeln. Bei einer Ausstellung des Kollektivs entdeckte ich "Le Phare", ein bewegendes Werk von Caroline Derveaux, entstanden aus ihrer eigenen Geburtserfahrung in der Maternité des Lilas. Ein Werk, das bezeugt, heilt, erleuchtet. Das ist die Magie von Begegnungen.
Für eine kulturelle Maieutik
Mit Unterstützung der Ateliers Médicis lädt Das Relais dazu ein, eine neue Vision künstlerischer Begleitung zu entwickeln. Es geht nicht nur ums Produzieren, Ausstellen, Performen. Es geht darum, in einem lebendigen, unterstützenden, achtsamen Rahmen zu erschaffen. Wir wollen Räume für Reflexion schaffen, für interdisziplinäre Begegnungen, für das Austragen von Ideen, für Übertragung und Wandel im Zeichen des kollektiven Wohlseins. Denn kein Werk kommt allein zur Welt. Es entspringt einer Gemeinschaft, es gehört zu ihr, es wird von ihr getragen. In einer zunehmend prekarisierten, beschleunigten, wettbewerbsgetriebenen Kulturlandschaft ist es dringlich, eine einfache Überzeugung zu bekräftigen: Kreieren heißt Leben geben. Und das verdient Pflege. Also ja, lassen wir die wertvollsten Lehren der Geburtsräume in den Dienst der Kultur treten: Gehör, Geduld, Respekt für den Rhythmus, und das Gemeinsame. Wenn wir das Erbe der Lilas weitertragen, bewahren wir nicht nur Geschichte. Wir bereiten eine Zukunft, in der das Wohlsein vom Geborenwerden inspiriert ist. Und in der die Schöpfung, voll und ganz lebendig, wieder frei atmen kann.
KINDERWERKE @LERELAIS FESTIVAL 2018
KINDERWERKE @LERELAIS FESTIVAL 2018
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ÜBER LOTFI AOULAD
Zunächst Anwalt, später Berater für öffentliche Politik – sein Werdegang ist geprägt von dem Wunsch, verschiedene Welten zu durchqueren: von den Vororten von Saint-Denis über internationale Institutionen bis hin zu selbstverwalteten Gemeinschaften im ländlichen Raum sowie zu Krankenhaus- und Gefängniseinrichtungen. Im Jahr 2024 wurde er nach einer einjährigen Ausbildung an der Maternité des Lilas als Doula für Geburtsbegleitung zertifiziert. Er ist Mitglied des Vorstands der Organisation Rêv'Elles. Außerdem war er Co-Direktor der Zeitschrift für mediterrane Literatur Nejma und unterstützt mehrere Initiativen in den Bereichen Kunst und Mode. Er ist Mitglied des Expertengremiums für den Modepreis der Arabischen Welt.
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Ich empfinde tiefe Traurigkeit angesichts dieser Schließung, vermischt mit großer Dankbarkeit, Teil ihrer Geschichte und Gemeinschaft gewesen zu sein. Denn eines Tages schrie ich dort, gemeinsam mit einer gebärenden Mutter, im gedimmten Licht des Gebärsaals. Ich tanzte eine kubanische Rumba, um die Wehen zu begleiten. Ich bereitete ein Sandwich für einen Vater zu, der zweifelte. Ich sah Hebammen, die erst nach einer Bitte ihre Hände auf die Körper legten, Lächeln auf erschöpften Gesichtern, den allerersten Blick zwischen Eltern und Kind. Ich hatte nie geplant, Doula zu werden. Und doch wurde etwas in mir geboren. Meine erste Geburt war eine Überfahrt. Sie heilte das Kind, das ich war, indem sie den Mann hervorbrachte, der ich sein möchte: ein dem Leben zugewandter Mensch, der darauf achtet, dass es in Würde und Sanftheit entstehen kann. An jenem Tag wurde ich erwachsen. In diesem Moment verstand ich auch, wie wesentlich es ist, Geburt und künstlerisches Schaffen miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn wenn die Geburtsklinik schließt, bleiben ihre Lehren bestehen. Diese Verbindung zwischen Wohlsein und Geborenwerden ist meine Art, die Geschichte der Lilas weiterzutragen, meine eigene dort einzuschreiben – anderswo und auf andere Weise.
Von Geburtsräumen zu Kulturszenen
Zu oft noch hält sich das Bild vom einsamen Künstler, gefangen in seinen Zweifeln, der in Schmerz erschaffen muss. Doch wie eine Geburt ist auch die Entstehung eines Kunstwerks oder kulturellen Projekts kein isolierter Akt. Ich habe mehrere Geburten begleitet. Ich habe zutiefst inspirierende Teams beobachtet, die Gehör, Menschlichkeit und Organisation in einem wohlwollenden Rahmen vereinten. Jede Geburt wird als individueller Prozess betrachtet, mit Respekt für Rhythmus, Bedürfnisse und Wünsche. Im Kreißsaal hat jeder – Ärztinnen, Hebammen, Doulas, Pflegepersonal, Partnerinnen, Familien, Freundinnen – eine klare Rolle, doch alle wirken gemeinsam, um die Geburt bestmöglich zu begleiten. Warum nicht unsere Kulturpolitik an diesem Modell orientieren? Wie eine Geburt braucht auch künstlerisches Schaffen Zeit, Aufmerksamkeit und Ressourcen. Es trägt die Geschichte seines oder seiner Schöpferin in sich. Als Doula führe ich pränatale Gespräche mit werdenden Eltern: Wir sprechen über Ängste, Wünsche, Vorstellungen. Daraus entsteht ein Geburtsplan, eine gemeinsame Vorbereitung. Warum also keine "Schöpfungspläne", gemeinsam mit den Künstlerinnen entwickelt, auf Basis ihrer Realitäten statt bloß erwarteter Ergebnisse?
Nach der Schöpfung: Die Pflege
Die Zeit nach einer künstlerischen Schöpfung ist oft verstörend. Es kann Leere folgen, ein Schwebezustand, Erschöpfung. Genau dann muss die Begleitung weitergehen. Denn sie endet nicht mit der "Geburt" des Werks. Ein inspirierendes Beispiel ist "Le Cercle de l'Art", gegründet von Margaux Derhy: ein Kollektiv von Künstlerinnen, die sich gegenseitig beim Aufbau ihrer Laufbahnen unterstützen und Werkzeuge für ein Leben mit der Kunst entwickeln. Bei einer Ausstellung des Kollektivs entdeckte ich "Le Phare", ein bewegendes Werk von Caroline Derveaux, entstanden aus ihrer eigenen Geburtserfahrung in der Maternité des Lilas. Ein Werk, das bezeugt, heilt, erleuchtet. Das ist die Magie von Begegnungen.
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Mit Unterstützung der Ateliers Médicis lädt Das Relais dazu ein, eine neue Vision künstlerischer Begleitung zu entwickeln. Es geht nicht nur ums Produzieren, Ausstellen, Performen. Es geht darum, in einem lebendigen, unterstützenden, achtsamen Rahmen zu erschaffen. Wir wollen Räume für Reflexion schaffen, für interdisziplinäre Begegnungen, für das Austragen von Ideen, für Übertragung und Wandel im Zeichen des kollektiven Wohlseins. Denn kein Werk kommt allein zur Welt. Es entspringt einer Gemeinschaft, es gehört zu ihr, es wird von ihr getragen. In einer zunehmend prekarisierten, beschleunigten, wettbewerbsgetriebenen Kulturlandschaft ist es dringlich, eine einfache Überzeugung zu bekräftigen: Kreieren heißt Leben geben. Und das verdient Pflege. Also ja, lassen wir die wertvollsten Lehren der Geburtsräume in den Dienst der Kultur treten: Gehör, Geduld, Respekt für den Rhythmus, und das Gemeinsame. Wenn wir das Erbe der Lilas weitertragen, bewahren wir nicht nur Geschichte. Wir bereiten eine Zukunft, in der das Wohlsein vom Geborenwerden inspiriert ist. Und in der die Schöpfung, voll und ganz lebendig, wieder frei atmen kann.
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